Das Ziel dieses Issues ist die Sensibilisierung für die bestehende geschlechtsspezifische Sozialisation von Mädchen* und Jungen* sowie den Einfluss gesellschaftlicher Rollenbilder und Erwartungen auf ihre Lebenswege und -entscheidungen. Es wird erläutert, welche Bedeutung chancengerechte Bedingungen für Mädchen* und Jungen* in der OKJA haben und dafür plädiert, alle Angebote der OKJA dementsprechend zu planen. Das langfristige Ziel der pädagogischen Bemühungen ist die Anerkennung und Förderung der Individualität von Kindern und Jugendlichen, ohne sie einem Geschlecht zuzuschreiben oder durch Gleichmachung Differenzen und Vielfalt zu missachten bzw. auszuschliessen.
Die öffentliche / politische Diskussion um Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit zwischen Frauen* und Männern* findet in der Schweiz bereits seit über 100 Jahren statt (Crotti & Keller 2001). Dabei ging und geht es insbesondere darum, die Chancen der Frauen* resp. Mädchen* auf Anerkennung und Erfolg zu erhöhen und gerechte Zugänge v.a. in Ausbildung und Beruf zu schaffen. Zentrales Kriterium dieser Diskussionen ist die Unterscheidung zwischen «gleichen» und «gerechten» Chancen. Die Definitionen dieser Begriffe sind allerdings uneinheitlich und differieren je nach Fachgebiet. Beispielsweise kann «Chancengleichheit» als empirische und «Chancengerechtigkeit» als normative Kategorie verstanden werden. D.h. «Gleichheitsaussagen lassen sich empirisch begründen, also aufgrund von Daten aus dem schulischen Feld. Gerechtigkeit hingegen lässt sich nicht quantitativ bestimmen oder messen» (PH Bern). Da in den Fachstellen der offenen Kinder- und Jugendarbeit jedoch keine Forschung, sondern Praxisarbeit geleistet wird, steht hier die operative Umsetzung im Mittelpunkt. Dominik Weber (Gesundheitsförderung Schweiz) definiert, in Bezug auf Gesundheitsförderung und Prävention, die «Chancengleichheit» als ein «politisches Leitziel» wogegen unter «Chancengerechtigkeit» ein «operatives Umsetzungsprinzip» verstanden wird (Weber 2020). Übertragen auf die OKJA bedeutet dies, dass alle Kinder und Jugendlichen gleiche Möglichkeiten zur Entwicklung und zum Aufwachsen erhalten («Chancengleichheit»), welche durch Politik und Gesetze verankert und geschützt werden. Um dieses Ziel jedoch tatsächlich umzusetzen, braucht es gerechte Bedingungen («Chancengerechtigkeit»). Die Aufgabe der OKJA ist es, ebensolche gerechten Bedingungen in ihrer Arbeit und ihren Einrichtungen zu schaffen und ihre Angebote stets dahingehend zu überprüfen.
Trotz vieler Fortschritte auf politischer und gesetzlicher Ebene (bspw. gleicher Zugang zu Bildungseinrichtungen, Aufhebung geschlechtsbezogener Lehrpläne, Frauenstimmrecht, zweiwöchiger Vaterschaftsurlaub) hält die Diskussion um gleiche Chancen und Gerechtigkeit zwischen Frauen* und Männern* weiter an. Dies auch, weil die geschlechtsspezifische Sozialisation von Kindern und Jugendlichen noch immer die Erziehung und Entwicklung prägt (Meinhold 2000). Mädchen* und Jungen* wachsen weiterhin mit dem Verständnis auf, dass bestimmte Rollen und Verhaltensweisen sowie hierarchische Regeln aufgrund ihres biologischen Geschlechts naturgegeben sind. In vielen Situationen und Settings, sei es Zuhause, in der Schule oder in der Freizeit, werden Kinder und Jugendliche mit geschlechtertypischen Bildern und Erwartungen konfrontiert. Auch die Berufswahl ist stark von der geschlechtsspezifischen Sozialisation geprägt. So zeigt eine Studie aus Basel (Baumgartner et al. 2017), dass junge Frauen* sich bereits bei der Berufswahl überlegen, welche Berufe eher mit einer Familie zu vereinbaren sind, während junge Männer* sich eher Berufe auswählen, in denen sie später Karriere machen können. Junge Frauen* und Männer* wählen zudem grösstenteils noch immer geschlechtstypische Berufe.
Die Auswirkungen der geschlechtsspezifischen Sozialisation zeigen sich also einerseits auf persönlicher Ebene im Erwachsenenleben (Berufswahl, Aufgaben innerhalb der Familie). Andererseits gibt es auf gesellschaftlicher Ebene Erwartungen an die Geschlechter, wie bspw. der vermeintlich universelle Wunsch nach Kindern bei Frauen* und der Status des Mannes* als Hauptverdiener der Familie. Die beiden Ebenen decken und verstärken sich und zementieren dadurch die gängigen Rollenbilder.
In dieser seit mehr als einem Jahrhundert geführten Diskussion wurde jedoch auch deutlich, dass die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen Jungen* und Mädchen* durch reine «Gleichmachung» nicht zu überwinden sind (Crotti & Keller 2001). Es stellt sich immer wieder die Frage danach, wie Chancen gleich resp. gerecht verteilt werden können, bei gleichzeitiger Achtung von Unterschieden. D.h., wie können Differenzen geachtet und integriert werden, ohne sie dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuzuschreiben und Kinder oder Jugendliche deswegen zu diskriminieren? Aus dieser Frage heraus haben sich in der OKJA verschiedene Methoden der «geschlechtergerechten Arbeit» (DOJ 2012) mit u.a. den folgenden Zielsetzungen entwickelt:
Geschlechtergerechte offene Kinder- und Jugendarbeit erfordert «genau hinzuschauen und sich der unterschiedlichen Lebenslagen, Bedürfnisse und Interessen zwischen Mädchen und Jungen, aber auch der Unterschiede unter den Mädchen und unter den Jungen bewusst zu werden. Die ausgemachten Unterschiede sind nicht als zwingende Gegebenheiten zu nehmen, sondern stetig zu hinterfragen und zu überprüfen. Dabei liegt die Herausforderung darin, die Unterschiede zu sehen und damit zu arbeiten, sie jedoch nicht zu vereinfachen und zu reproduzieren. Fernziel aller Interventionen soll das Auflösen des bipolaren und wertenden Systems sein, das ausnahmslos in männlich oder weiblich aufteilt» (DOJ 2012: 4). Auf lange Sicht soll demnach das Ziel der pädagogischen und gesellschaftlichen Bemühungen sein, Eigenschaften einer Person nicht ihrem Geschlecht zuzuschreiben, sondern jeden Menschen individuell zu betrachten und zu verstehen. Dies gilt auch für Menschen, die sich weder dem männlichen* oder weiblichen* Geschlecht zugehörig fühlen. Der Themenbereich «LGBTIAQ*», d.h. die Auseinandersetzung mit weiteren Geschlechtern sowie unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, wird jedoch in einem separaten Issue thematisiert. Das vorliegende Issue fokussiert die Vorteile und Möglichkeiten von geschlechterhomogenen Angeboten der OKJA. Es stellt den Aspekt der Chancengerechtigkeit zwischen Mädchen* und Jungen* in den Mittelpunkt, da dieses Thema noch immer aktuell ist, insbesondere in Hinblick auf die unterschiedlichen sozialen Lebenslagen von Mädchen* / Frauen* gegenüber Jungen* / Männern*. Mit der Verwendung des «Gender-Sternchens» soll jedoch darauf verwiesen werden, dass die Existenz weiterer Geschlechter gesehen und anerkannt wird.
Offene Kinder- und Jugendarbeit fördert die Gleichstellung von Frau* und Mann* indem sie ihre Angebote chancengerecht ausrichtet. Damit unterstützt sie alle Kinder und Jugendlichen in der Entwicklung ihrer Identität und fördert den wertfreien Umgang mit geschlechtlicher Diversität.
Die offene Kinder- und Jugendarbeit engagiert sich subsidiär oder ergänzend zu weiteren Anbieter*innen im Bereich der beruflichen Integration, schliesst Lücken und übernimmt eine Brückenfunktion. Dabei legt sie ein besonderes Augenmerk auf die Unterstützung von Mädchen* und Jungen*, die sich für Berufswege interessieren, welche nicht traditionell dem jeweils eigenen Geschlecht zugeschrieben werden.
Zur Förderung kinder- und jugendgerechter Rahmen- / Aufwachsbedingungen gehört die Reflektion ihrer aktuellen Lebenslagen. Die offene Kinder- und Jugendarbeit reflektiert diese auch in Hinblick auf die geschlechtsspezifische Sozialisation und fördert die Erweiterung des individuellen Handlungs- und Entwicklungspotentials von Mädchen* und Jungen*.
Die offene Kinder- und Jugendarbeit fördert das psychische Wohlbefinden und die sexuelle Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Sie zielt auf die Selbstbestimmung, unabhängig von traditionellen Rollenbildern und geschlechtlichen Normen. In darauf aufbauenden geschlechtergerechten Angeboten und Projekten können Verhaltensweisen und soziale Fertigkeiten überdacht, verändert und ausprobiert werden.
Die offene Kinder- und Jugendarbeit sorgt für eine Mitwirkungskultur, die es Mädchen* und Jungen* gleichermassen ermöglicht, sich einzubringen und mitzubestimmen.
*Verordnung über die Leistungsangebote der Familien-, Kinder- und Jugendförderung (FKJV)
Anlauf- und Beratungsstelle für Fragen zu geschlechtergerechter Arbeit mit Mädchen* und jungen Frauen*. Die Angebote des Punkt 12 richten sich an Mädchen* und junge Frauen* von 10 bis 20 Jahren aus Stadt und Region Bern.
Jurastrasse 1
3013 Bern
Tel.: 031 333 88 44
Ein Angebot für Mädchen* und junge Frauen* ab 7 Jahren, bei dem sie für einige Tage zusammenkommen und verschiedenste Aktivitäten unternehmen.
Haslerstrasse 21
3008 Bern
Tel.: 031 380 88 40
info@spieleninbern.ch
Ein stadtteilübergreifendes Angebot für Jungen*, welches wiederkehrend angeboten wird.
Timo Huber
Haslerstrasse 21
3008 Bern
031 332 16 60
timo.huber@spieleninbern.ch
Das «you&me» ist ein Treffpunktangebot der kijufa Ittigen für Mädchen* und Jungen* der 5. und 6. Klasse. Das Angebot existiert seit 2020 und hat das Ziel, die Modi*- und Giele*träffs – mit Blick auf die «neue Vielfalt» der Geschlechter – zusammenzuführen. Aufgrund der verschiedenen Identitäten und Lebensweisen wird das professionelle Handeln «geschlechtsneutral» primär auf die Individuen mit ihren unterschiedlichen Ressourcen, Vorlieben und Entwicklungsmöglichkeiten ausgerichtet.
Robi Müller
Fischrainweg 10
3048 Worblaufen
Tel.: 031 925 23 80
ittigen@kijufa.ch
Da der weitaus grössere Teil der Besuchenden in gemischten Jugendtreffs männlich* ist, werden für Mädchen* und junge Frauen* ab der 4. Klasse spezielle Räume und Zeiten in Thun angeboten. Zudem ist das MäT* eine Fachstelle für Beratung von Mädchen* und jungen Frauen* und bietet Prävention, Workshops und Projekte in verschiedenen Themenbereichen an.
Aarequai 70
3600 Thun
Tel.: 033 225 80 81 / 079 294 3968
maet@thun.ch
Die Vergabe der Jobs erfolgt nicht gendertypisch, sondern nach Interessen der Jugendlichen. Dadurch soll gefördert werden, dass Mädchen* und Jungen* losgelöst von gendertypischen Zuschreibungen ihre Berufswahl gemäss Interessen und Fähigkeiten treffen.
Robi Müller
Fischrainweg 10
3048 Worblaufen
Tel.: 031 925 23 80
ittigen@kijufa.ch
Ferienworkshops für Mädchen* im Primarschulalter zur Förderung der Selbstwirksamkeit, Selbstständigkeit und des Selbstbewusstseins.
Eveline Lüscher
Tel.: 077 409 84 34
info@starke-maedchen.ch
Die Fachstelle bietet v.a. Beratung und Weiterbildungen für Schulpersonal im Bereich der Mädchen*- und Jungen*pädagogik an. Zudem unterstützt jumpps* Projekte für Jungen* und Mädchen*, in denen die Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen ermöglicht wird (bspw. «Echt stark, Mann*!» oder «Mein Beruf»).
Zentralstrasse 156
8003 Zürich
Tel.: 044 825 62 92
fachstelle@jumpps.ch