Sicher, aber nicht mit Vollkasko

Spannungsfeld Sicherheit und Vollkaskogesellschaft

Das Issue «Sicher, aber nicht mit Vollkasko» behandelt das Spannungsfeld zwischen Sicherheit bzw. rechtlichen / gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und dem Umgang mit Freiheiten und neuen Herausforderungen von Kindern und Jugendlichen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Risikokompetenz.

Für die ganzheitliche Entwicklung von Kindern sind Bewegung und Spiel wichtige Bausteine. «Sie können nicht losgelöst von anderen psychischen Bereichen wie Denken, Emotionen oder Sozialverhalten betrachtet werden» (Engel et al. 2013: 10). «Je umfangreicher und vielfältiger die motorischen Erfahrungen im Kindesalter sind, desto höher wird die Bewegungssicherheit im Jugend- und Erwachsenenalter sein» (Högger 2018: 16). Für die kognitive und motorische Entwicklung ist es also eminent, dass Kinder sich erproben und reiben können, um so die eigenen Stärken und Grenzen zu erfahren. Nur vor einem Hintergrund, der sie angemessen herausfordert, sind Kinder in der Lage, Fortschritte zu machen. «Angemessen herausfordern» bedeutet in diesem Zusammenhang auch, kalkulierbare Risiken einzugehen, also Herausforderungen, die knapp über das hinausgehen, was ein Kind schon kann (vgl. ebd. 2018: 16). Durch diese elementaren Erfahrungen von Gefahrensituationen können Kinder ihre Risikokompetenz ausbauen.

Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) versteht Risikokompetenz als Zusammenspiel von Gefahrenbewusstsein und der Fähigkeit zur Selbststeuerung (vgl. BFU 2020). Das Gefahrenbewusstsein beschreibt dabei die Fähigkeit, Gefahren wahrzunehmen und diese angemessen zu beurteilen. Mit der Selbststeuerungsfähigkeit gelingt es, Gefahren angemessen zu begegnen und das Verhalten anzupassen (ebd.). «Risikokompetente Kinder wissen, was sie sich selber zumuten wollen und zutrauen können, ohne sich zu gefährden. An neue Herausforderungen gehen sie mit Umsicht heran. Sie erkennen, wann sie einen Plan aufgeben oder ändern und wann sie sich aus gewagten Situationen zurückziehen müssen. Sie können wenn nötig gezielt Hilfe anfordern oder eine gegebene Situation so verändern, dass sie bewältigbar wird» (Engel et al. 2013: 11). Um die Risikokompetenz zu fördern, erachtet es die BFU daher als wichtig, dass Spielplätze keine Gefahren bergen, welche Kinder nicht oder nur schwer erkennen können. Jedoch erhöhen Gefahren mit geringen Folgen den Spielwert, sodass dementsprechende Spielplätze die «Gelegenheit bieten, den Umgang mit Gefahren zu lernen» (ebd. 2013: 10).

Die Entwicklung der Risikokompetenz von Kindern und Jugendlichen ist abhängig von den jeweiligen Aufwachsbedingungen (Familie, Schule, Ausbildung, Freizeit), welche durch rechtliche und gesellschaftliche Vorgaben, Normen und Werte geprägt sind. Es ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung einen bewussten Zugang zu diesen Regeln, Normen und Werten erhalten und wissen, warum und wie diese entstanden sind. Somit sind sie in der Lage, diese verstehen und sie ggf. auch hinterfragen und mitprägen zu können. Gerade in der Berufswelt sind heute vermehrt kreative Lösungen sowie bewegliche, selbständige und mitdenkende Mitarbeiter*innen gefragt. Flexibilität, Selbständigkeit und freies Denken sind Fähigkeiten, welche bereits Stück für Stück in der Kindheit und Jugend erarbeitet werden (müssen).

Jugendliche und junge Erwachsene sollen selbständig über ihren individuellen Lebensentwurf entscheiden können und die Chance haben, diesen zu verwirklichen. Auf dem Weg zur Selbständigkeit ist es wichtig, dass sie Freiräume haben, in denen sie ihre spezifischen Bedürfnisse und ihre Andersartigkeit in Abgrenzung zur Erwachsenenwelt leben können (vgl. DOJ 2018: 3). Lernen und Entwicklung erfordern immer auch die Bereitschaft, sogenannte «Wagnisse» einzugehen. Mit Wagnissen sind hier Herausforderungen gemeint, die kalkulierbar und nicht fahrlässig sind (vgl. Högger 2018: 16). Insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind Verhaltensweisen, die ein gewisses Mass an Risiko zulassen, für die Bildung einer von Selbständigkeit geprägten Identität essenziell. In der Erlebnispädagogik wird bei einem solchen Lernprozess von «Wagnissen eingehen» gesprochen und es wurde das «Lernzonenmodell» entworfen. Hauptaussage des Lernzonenmodells: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene brauchen Erfahrungen auf ungewohntem Terrain. Um lernen und sich entwickeln zu können, brauchen sie das Verlassen der «Komfortzone» hin zur «Lernzone ». In dieser Zone fühlen sie sich nicht mehr uneingeschränkt sicher und es erwartet die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Neues und Unerkundetes, was sie mitunter verunsichern kann. Durch die Erfahrungen in der «Lernzone» erweitern Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ihren Horizont sowie den Bereich, in dem sie sich wohl und sicher fühlen.


Lernzonenmodell (Quelle: https://www.drudel11.ch/ueber-uns/erlebnispaedagogik/)

Schlummernde Ressourcen kommen an die Oberfläche und neue Perspektiven und Lösungsansätze ergeben sich (vgl. Zuffellato und Kreszmeier 2007: 81). Es geht also sowohl bei Kindern wie auch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht darum, Risiken zu minimieren, sondern durch angemessene Förderung ihre Risikokompetenzen zu optimieren. Das Verhältnis von persönlichen Kompetenzen, Anliegen und Bedürfnissen einerseits und äusseren Anforderungen und Einflüssen andererseits, ist dabei das Mass für die individuelle Sicherheit. Nach dem pädagogischen Modell des risflecting® (siehe dazu auch: www.risflecting.at) sollen Menschen dazu «befähigt werden, Verantwortung für ausseralltägliche Erfahrungen zu übernehmen und damit deren Potentiale gewinnbringend für ein individuelles und kollektives Wachstum einzusetzen» (Rohr 2018: 9).
Die offene Kinder- und Jugendarbeit kann Kindern und Jugendlichen solche Freiräume / Erlebnisräume anbieten und einen Beitrag zur Förderung der Risikokompetenz leisten.


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Betroffene Politikbereiche

Kinder- und Jugendpolitik

  • Kinder- und jugendgerechte Rahmenbedingungen schaffen und erhalten.
  • Freiräume für Kinder und Jugendliche bieten.
  • Schutz, Förderung und Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen.

Bildungspolitik

  • Persönlichkeitsentwicklung über informelle Bildungsprozesse (ausserschulische Bildungsprozesse) und Empowerment unterstützen.
  • Kindern gute Grundlagen bieten zur kognitiven und motorischen Entwicklung.
  • Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Entwicklung unterstützen.
  • Physische und mentale Freiräume als Lernfelder auf dem Weg zur Selbständigkeit bieten / entwickeln lassen.

Sozialpolitik

  • Chancengleichheit fördern durch offene, niederschwellige Freiräume und die notwendige Begleitung.

Gesundheitspolitik

  • Risikokompetenz durch das Zulassen von Wagnissen und Scheitern fördern.
  • Selbstbestimmung und -kompetenz fördern durch Anbieten von Experimentierräumen.

Kulturpolitik

  • Erfahrungsräume zur Förderung der Kinder- und Jugendkultur bieten.
  • Sich veränderndes Kulturleben zulassen.
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Potential und Herausforderungen

Potential

  • Aktivierung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zur Auseinandersetzung mit Normen, Strukturen und Werten der Gesellschaft und der Möglichkeit, das Gemeinwesen mitzuprägen.
  • Sozialraum wird belebt, kreativ genutzt; Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene eignen sich den Raum an und nutzen ihn um.
  • Förderung der Mitwirkung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, indem ihre Anliegen in einem geeigneten Rahmen artikuliert und umgesetzt werden können.
  • Förderung der kognitiven und motorischen Fähigkeiten.
  • Entwicklung von mündigen, mitdenkenden und engagierten Bürger*innen.
  • Freiwilliges Engagement wird verstärkt.
  • Nachwuchs für lokale Politik.
  • Mehr Sicherheit für Erziehungsberechtigte durch die Begleitung einer Fachperson.

Herausforderungen und Probleme

  • Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in ihren Settings Wagnissituationen bieten zu können, welche sie herausfordern, aber kalkulierbar sind; sich nicht dem Vorwurf der Fahrlässigkeit auszusetzen (Risiken ermöglichen ohne rechtliche Bedingungen zu verletzen).
  • Verständnis der Bevölkerung für individuelle und vielfältige Lebensentwürfe.
  • Spannungsfeld zwischen gesetzlichen Rahmenbedingungen und Erfahrungsmöglichkeiten.

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Werte / Haltungen / Forderungen

  • Vertrauen in Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen haben und sie in ihrem Tun bestärken.
  • Erfahrungs-, Erlebnis- / Experimentierraum bieten, um freiwilliges Engagement, selbständiges Denken und Selbstwirksamkeit zu fördern.
  • Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine 2., 3. und 4. Chance bieten, um das Beziehungsverhältnis zwischen ihnen und der erziehenden Person nicht zum Abbruch zu führen.
  • Prinzip der Offenheit leben, auch der Ergebnis- und Prozessoffenheit.
  • Prinzip der Freiwilligkeit hochhalten.
  • Moment der Krise als wichtig und lehrreich akzeptieren (führt zu Veränderung / Erweiterung).
  • Scheitern zulassen und so das Verantwortungsbewusstsein fördern.

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Relevanz gem. Ziele FKJV* (ehem. ASIV)

Durch den Zugang zu und der Begleitung in Erfahrungs- und Erlebnisräumen…

…wird die Sozialisation von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen angeregt, da sie sich beim Handeln in diesen Räumen mit unterschiedlichen Gegebenheiten und Vorstellungen auseinandersetzen.

…wird die Mitwirkung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen gefördert, indem sie prozess- und ergebnisoffen handeln, ihre Ideen und Projekte umsetzen, ihre Selbstständigkeit fördern, sich selber Freiraum erobern und diesen prägen können.

…wird die Kinder- und Jugendkultur gestärkt, da die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Räume für die Verwirklichung ihrer individuellen Vorstellungen vorfinden und Prozesse bewusst
ergebnisoffen gestaltet werden.

… werden kinder- und jugendgerechte Rahmenbedingungen unterstützt. Es findet eine Auseinandersetzung mit gesetzlichen Vorgaben statt, welche die Erfahrungen und Erlebnisse teilweise einschränken und somit kreative Lösungen erfordern. Dabei wird vermittelt zwischen den Rahmengebenden und den Rahmenausfüllenden.



*Verordnung über die Angebote zur sozialen Integration, Kanton Bern (ASIV)


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Leistungen OKJA

  • (Erfahrungs-)Räume bieten, ohne Kinder und Jugendliche fahrlässig Risiken oder unangemessenen Situationen auszusetzen.
  • Einschätzen, wann Herausforderungen angemessen sind und wann Grenzen überschritten werden; die Herausforderungen dem Alter und den Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen anpassen (Informationen zu rechtlichen Fragen gibt z.B. das Buch «Alles was Recht ist. Rechtshandbuch für Jugendarbeitende» herausgegeben von okaj Zürich).
  • Mitwirkungs- und Mitsprachemöglichkeiten bieten.
  • Vermitteln zwischen unkonventionellen Anliegen der Jugendlichen und Erwartungen aus Sicherheit, Politik, Verwaltung und Bevölkerung.
  • Offene Begleitung von Kindern und Jugendlichen.
  • Schaffen von offenen Räumen, Begegnungsorten und Mitsprachemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche.

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Konkreter Nutzen

für Kinder / Jugendliche

  • Erlangen von Risikokompetenz über das Eingehen von «Wagnissen».
  • Förderung der motorischen und kognitiven Fähigkeiten.
  • Fachpersonen der OKJA können Kinder / Jugendliche bei der Verwirklichung ihrer Anliegen unterstützen, welche woanders (z.B. Schule, Familie) keinen Platz finden.
  • Es werden Räume und Orte geschaffen und erhalten, in denen Kinder und Jugendliche sich ausprobieren und Herausforderungen erfahren können.
  • Viele und vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten für verschiedenste Interessen.

für Gemeinden / die Gesellschaft

  • Sicherheit, das offene Prozesse begleitet werden.
  • Heranwachsen aktiver, mitdenkender, engagierter und risikokompetenter Menschen.
  • Wenig Regeln fordern die Menschen dazu auf, auszuhandeln (gesellschaftlicher Effekt des Zusammenlebens).

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Good Practice

«Heiwäg»

Das Projekt «Heiwäg» gibt es in der ganzen Schweiz. Dabei werden Jugendliche 80 Kilometer vom Ursprungsort als Gruppe abgesetzt. Das Ziel ist es, mit einem festgelegten Geldbetrag in vier Tagen wieder nach Hause zu finden und sich unterwegs Unterkunft und Essen zu organisieren. Dabei entwickelt die Gruppe Selbständigkeit, Verantwortung, Motivation und Zusammenhalt.

Diverse Fachstellen für offene Kinder- und Jugendarbeit
in der ganzen Schweiz, z.B:

«Heiwäg» Worb
Äusserer Stalden 3
3076 Worb
info@jugendarbeit-worb.ch

Worb, Heiwag

«Heiwäg 3065» Bolligen / Ittigen
Kinder- und Jugendfachstelle Bolligen
Kirchstrasse 12a
3065 Bolligen
031 921 21 89

Heiwäg Bolligen


«Vor_Park» Muttachstrasse, Bern

Der «Vor_Park» ist eine Zwischennutzung auf der Brache bei der Muttachstrasse, welche bis Ende 2020 andauert. Die offene Jugendarbeit engagiert sich im Vor_Park für eine aktive Teilhabe Jugendlicher am öffentlichen Raum und bespielt, in enger Zusammenarbeit mit dem Verein Vor_Park, das vielseitige Gelände.

Trägerverein für die offene Jugendarbeit der Stadt Bern, TOJ
Jugendarbeit Bern Mitte
Jugendbüro Schlossstrasse
Schlossstrasse 122
3007 Bern

https://vorpark.ch/der-vor_park/


Spielplatz «Längmuur», Bern

Der Spielplatz Längmuur ist ein Abenteuerspielspielplatz direkt an der Aare, der vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten bietet. Er ist immer zugänglich und bespielbar.

Spielplatz Längmuur
Langmauerweg 20a
3011 Bern
laengmuur@spieleninbern.ch

Spielplatz Längmuur


Spielplatz am Schützenweg, Bern

Der Spielplatz am Schützenweg ist ein Abenteuerspielplatz mitten im Quartier und bietet eine Vielzahl an Erlebnismöglichkeiten. Das Areal ist immer zugänglich und bespielbar.

Spielplatz am Schützenweg
Allmendstrasse 21
3014 Bern
spili@lorraine.ch

Spielplatz Schützenweg


Kinderbaustelle Biel

Die Kinderbaustelle auf dem grossen Zwischennutzungsgelände «Terrain Gurzelen» in Biel bietet vielfältige Baumöglichkeiten nach eigenen Vorstellungen und Wünschen für Gross und Klein. Der Umgang mit Maschinen wird vermittelt sowie Fähigkeiten und Kompetenzen über das eigene Wirken ausgebaut.

Kinderbaustelle Biel
Sonnhalde 1
2502 Biel/Bienne
info@kinderbaustelle.ch

https://www.kinderbaustelle.ch/


(Teil-)autonome Jugendkulturzentren / Jugendclubs

Ein Team aus freiwilligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen mietet einen Raum / ein Zentrum und betreibt dort Umschwung, Gebäude und Betrieb selbständig. Die OKJA unterstützt und vermittelt bei Bedarf.

zum Beispiel:

Gaskessel Bern
Sandrainstrasse 25
3007 Bern, Schweiz
Jugendarbeit und Soziokultur
Joëlle Dinichert
jugendarbeit@gaskessel.ch
031 372 49 00

www.gaskessel.ch

Einspruch Diskothek Bern
Philippe Eggenschwiler
Geschäftsführer
info@einspruch-bern.ch

www.einspruch-bern.ch


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