Young Carers

Begriff «Young Carer»

Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die ein Familienmitglied oder eine nahestehende Person wegen einer (körperlichen oder psychischen) Erkrankung, einer Beeinträchtigung, Sucht oder Alter regelmässig betreuen (Becker 2000) werden im Fachjargon «Young Carers» (bis 18 Jahre) und «Young Adult Carers» (bis 25 Jahre) genannt. 
Mit dem Begriff «Betreuung» sind verschiedene Aufgaben gemeint, wie zum Beispiel die Pflege und körperliche Unterstützung, Hilfe beim Haushalt (kochen, putzen, einkaufen usw.), die Betreuung von Geschwistern und die Regelung von finanziellen Angelegenheiten. Young Carers richten und verabreichen auch Medikamente und helfen bei der Kommunikation mit Ärzt*innen und Fachpersonen. Eine wichtige Komponente der Betreuung ist die emotionale Unterstützung: Gesellschaft leisten, schauen, ob bei der betreuten Person alles gut ist, die betreute Person begleiten, «da sein» (Leu et al. 2019). 
In der Schweiz hat eine nationale Prävalenzstudie des Programmbereichs «Young Carers» unter der Leitung von Prof. Agnes Leu gezeigt, dass 46% der Young Carers Betreuungsaufgaben für ein Geschwisterkind übernehmen (Leu et al. 2019). Das heisst, dass sie in Zusammenhang mit einer Krankheit, einem Unfall oder einer Beeinträchtigung ihrer Geschwister eine Verantwortung tragen, die üblicherweise Erwachsenen zugeschrieben wird.

Wie viele Young Carers gibt es in der Schweiz?

In der Schweiz übernehmen Tausende von Kindern und Jugendlichen (8% der Bevölkerung) Pflege- und Betreuungsaufgaben für ein Familienmitglied oder eine ihnen nahestehende Person mit einer körperlichen oder psychischen Erkrankung. Das bedeutet, dass in der Schweiz ungefähr 38 400 Kinder im Alter zwischen 10 und 15 Jahren Young Carers sind (Leu et al. 2019). 

Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede bei Young Carers?

Bei Young Carers zwischen 9 und 15 Jahren sind Mädchen und Jungen gleichermassen betroffen (Leu et al. 2019). Ab 16 Jahren befinden sich hingegen mehr junge Frauen als junge Männer in einer Young  (Adult) Carer-Rolle (Otto, Leu et al. 2019). Es gibt jedoch geschlechterspezifische Unterschiede in der Art der Betreuungsaktivitäten: junge Frauen übernehmen mehr häusliche, emotionale und persönliche Betreuungsaufgaben als junge Männer. Hingegen gibt es keinen Geschlechter-Unterschied für die Übernahme von finanziellen Aufgaben, Haushaltsaufgaben oder Geschwisterbetreuung  (Leu et al. 2019). Weitere und genauere Aussagen zu geschlechterspezifischen Unterschieden sind jedoch schwierig, da zum einen mehr Forschungsergebnisse benötigt werden und zum anderen insbesondere junge Männer sich nicht zu dem Thema äussern möchten. 

Welche Rolle spielt der Migrationshintergrund von Young Carers?

In der Schweiz gibt es noch zu wenig Daten um genaue Aussagen dazu machen zu können. Internationale Studien (z.B. «Carers Association of Australia» 2002) haben jedoch gezeigt, dass der Migrationshintergrund keine signifikante Rolle bei der Übernahme von Betreuungsaufgaben spielt.

Kindeswohlgefährdung: Sind die Gesundheit und die Entwicklung der Young Carers gefährdet?

Internationale Studienergebnisse zeigen, dass eine Kindeswohlgefährdung meist nicht vorliegt, aber eine höhere Belastung der Young Carers deutlich nachweisbar ist. Young Carers können eine Reihe von negativen Auswirkungen auf ihre eigene Gesundheit erleben, wenn sie nicht unterstützt werden (z. B. Leu et al. 2019, Santini et al., 2020). Eine internationale Studie, an der die Schweiz auch beteiligt war, hat sich zudem mit der Suizidgefahr bei Young Carers auseinandergesetzt und eine Erhöhung nachgewiesen. Ein grosses Problem ist häufig das versteckte, nach Aussen unsichtbare Leid. Betroffene Kinder und Jugendliche brauchen eine sehr gute Vertrauensbasis, damit sie über ihre Betreuungsrolle und die Situation in ihrer Familie sprechen können. Vertrauenspersonen können dabei sowohl Lehrer*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Jugendarbeiter*innen, aber auch Personen aus dem Familienkreis sein.

Warum ist es wichtig, Young Carers zu unterstützen?

Ohne Unterstützung können Young Carers eine Reihe von negativen Auswirkungen auf ihre eigene (physische und / oder psychische) Gesundheit oder ihre Bildungschancen erfahren: Wenn sie beispielweise keine Zeit haben, um genügend zu lernen oder um die Hausaufgaben zu machen, zu spät in die Schule kommen, müde sind oder zu viele Absenzen haben. Das kann zu schlechten Noten oder sogar Schulabbruch führen. Die Betreuungsrolle, die von Young Carers übernommen wird, kann darüber hinaus auch negative soziale Auswirkungen für sie haben, beispielsweise wenn sie gemobbt werden oder sie sich von ihren Freund*innen nicht verstanden fühlen. Dadurch fühlen sie sich allein und ausgeschlossen. 
Die Unterstützung durch Fachpersonen aus dem Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen ist deswegen sehr wichtig. Young Carers können aber auch von der Unterstützung von Gleichaltrigen oder von ehemaligen Young Carers («Peers») profitieren, indem sie Ideen und Tipps austauschen. Bis heute ist das Bewusstsein von Fachpersonen zum Thema bzw. zur Situation von Young Carers gering. Sie sind aber bereit, sich mehr Wissen anzueignen und auch dazu, Young Carers zu unterstützen (Leu et al. 2018 und Leu et al. 2020a).


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Betroffene Politikbereiche

Gesundheitspolitik

  • Förderung der körperlichen und psychischen Gesundheit von Young Carers durch Prävention.
  • Sensibilisierung von Fachpersonen und der breiten Öffentlichkeit zum Thema Young Carers: Gesundheitsfachpersonen können bspw. ihre Patient*innen fragen, ob sie Kinder haben und ob diese auch Unterstützung leisten bzw. benötigen.

Kinder- und Jugendpolitik

Sensibilisierung / Öffentlichkeitsarbeit: 

  • Vielen Young Carers ist es selbst nicht bewusst, dass sie betroffen sind und dass es Unterstützungsangebote gibt. 
  • Mobbing reduzieren dank Sensibilisierung und Wissen zum Thema in der breiten Bevölkerung.

Bildungspolitik

  • Kooperation zwischen Schule und ausserschulischen Angeboten (z.B. Sensibilisierung, Prävention, Früherkennung, Vermittlung und Beratung durch Fachpersonen der OKJA) kann Young Carers unterstützen, bessere Bildungschancen zu erhalten.

Sozialpolitik

  • Sensibilisierung von Sozialarbeitenden zum Thema Young Carers: Sie können in ihrem Alltag mit Young Carers in Kontakt treten und diese unterstützen.

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Potential und Herausforderungen

Potential

  • Durch eine gezielte Unterstützung können Young Carers auch positive Wirkungen von ihrer Betreuungsrolle erfahren: gesteigertes Selbstwertgefühl, frühe Reife, Schaffung von Identität, eine enge Beziehung zu der betreuten Person, Gefühl, gut auf das Leben vorbereitet zu sein.
  • Unterstützung durch Schule, Sozialarbeitende, Gesundheits- und weitere Fachpersonen.
  • Netzwerk verschiedener Akteur*innen aus dem Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie aus der Politik.
  • Aktive Partizipation von Young Carers: für ein besseres Verständnis ihrer Bedürfnisse / Adressierung ihrer Anliegen.

Herausforderungen

  • Young Carers werden von anderen und sogar von sich selbst häufig gar nicht als solche erkannt, weshalb sie unsichtbar bleiben und in der Schule, bei Sozialdiensten und von ausserschulischen Akteur*innen nicht genügend unterstützt werden können.
  • In der Schweiz gibt es keine spezifische Gesetzgebung zum Schutz und zur Unterstützung der Young Carers und ihrer Familien. Ebenso fehlt eine rechtliche Definition von Young Carers, weshalb sie oft nicht anerkannt werden und durch die Lücken der Sicherheitsnetze und Dienstleistungen fallen (Leu et al. 2020b).
  • Vor allem bei Suchterkrankungen und psychischen Krankheiten wollen Young Carers und deren Familien die Öffentlichkeit nichts davon wissen lassen, da sie befürchten, stigmatisiert zu werden. Zudem ist damit die Angst der Kinder und Jugendlichen verbunden, aus ihrer Familie herausgerissen zu werden.  
  • Die Betreuungs- und Pflegeaufgaben können negative Auswirkungen auf den Körper und die Psyche der Young Carers haben sowie auf ihr soziales Leben und ihre Schulleistungen. Prävention und Früherkennung sind deshalb sehr wichtig.

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Werte / Haltungen / Forderungen

  • Das Bewusstsein von Young Carers darüber, dass sie in ihrer Situation Hilfe erhalten können, wird gefördert. Es ist wichtig, dass Young Carers Unterstützung erhalten, sowohl von Erwachsenen als auch von Gleichaltrigen. 
  • Kinder und Jugendliche mit einer Betreuungsrolle können mit Fachpersonen sprechen, denen sie vertrauen.
  • Young Carers haben – nebst den schulischen Aufgaben – Betreuungsaufgaben zu erfüllen. Sowohl für ihr Zeitmanagement als auch bei der Kommunikation mit Lehrpersonen und / oder der Schulleitung brauchen sie daher Unterstützung.
  • Young Carers sollen in ihrem Recht und Bewusstsein, „Nein“ sagen zu dürfen, gefördert werden. Auch wenn sie viel Verantwortung haben – sie müssen sich nicht um alles kümmern und dürfen das ihrem Umfeld offen mitteilen.
  • Jugendarbeitende und Fachpersonen sollen darüber informiert sein, welche Unterstützungsangebote es für Young Carers (s. «Good Practice») gibt
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Relevanz gem. Ziele FKJV* (ehem. ASIV)

Durch Sensibilisierung und die offene Auseinandersetzung mit der Lebenssituation von Young Carers:

  • Werden die (psychische und körperliche) Gesundheit und das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen mit einer Betreuungsrolle gefördert. 
  • Wird ihre soziale Integration gefördert. Young Carers können sich isoliert fühlen und ihre Rolle kann negative Auswirkungen auf ihr Sozialleben haben. Sensibilisierung zum Thema und gezielte Unterstützung können dem entgegenwirken und Halt geben. Durch die Schaffung von Unterstützungsangeboten können zudem die Bildungschancen von Young Carers gefördert werden.



*Verordnung über die Angebote zur sozialen Integration, Kanton Bern (ASIV)


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Leistungen OKJA

  • In der OKJA arbeiten gut ausgebildete Fachpersonen, die es gewohnt sind, auch schwierige Themen wie «Young Carers» und «Betreuung / Pflege» mit Kindern und Jugendlichen anzugehen.
  • OKJA-Fachpersonen können Young Carers zu spezialisierten Angeboten begleiten oder an Fachpersonen vermitteln (Triage).
  • Die OKJA kann Räume bieten, in denen Young Carers sich treffen und austauschen können (analog «Young Carers Get-Togethers»).
  • OKJA-Fachpersonen bauen in ihrer Arbeit zu Kindern und Jugendlichen eine vertrauensvolle Beziehung auf. Dies ermöglicht es ihnen, Young Carers wohlwollend auf das Thema anzusprechen und somit frühzeitig auf Probleme und Auffälligkeiten zu reagieren (Prävention).
  • Die OKJA kann bei Kindern, Jugendlichen und Eltern ein allgemeines Bewusstsein für die Thematik «Young Carers» schaffen (Themenwände, Posts, Präventionsarbeit etc.).

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Konkreter Nutzen

für Kinder / Jugendliche

  • Gefühle ansprechen können, ohne Wertung.
  • Kennenlernen der eigenen Wünsche und Bedürfnisse.
  • Wissen, dass sie nicht allein sind und Hilfe bekommen können.
  • Andere Kinder und Jugendliche kennenlernen, die in einer ähnlichen Situation sind; Austauschmöglichkeiten.
  • Begleitung zu spezialisierten Angeboten oder Fachpersonen.
  • Unterstützung bei Hausaufgaben / Schule und dem alltäglichen Zeitmanagement.

für Gemeinden / die Gesellschaft

  • Früherkennung und Prävention: psychische und physische Gesundheit von Young Carers wird gefördert.
  • Familien werden unterstützt und entlastet.
  • Erhöhung der Chancengerechtigkeit.

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Good Practice

«Young Carers Get-Together»

Mit dem Angebot «Young Carers Get-Together» möchte Careum Hochschule Gesundheit Jugendliche und junge Erwachsene unterstützen, die sich als Young Carer engagieren. Die Treffen ermöglichen die Kontaktpflege, den Austausch untereinander und das Teilen von Tipps und Tricks. Auch Spass und gemeinsame Erlebnisse gehören dazu.  

Die Get-Togethers wurden in den Modellen guter Praxis von Entlastungsangeboten für betreuende Angehörige des BAG verzeichnet.

Careum Hochschule Gesundheit

Forschungsprogramm Young Carers 
Gloriastrasse 18a
8006 Zürich
043 222 50 56
youngcarers@careum-hochschule.ch
www.kalaidos-fh.ch

Feel-ok

Die Internetplattform feel-ok.ch bündelt in einer kohärenten Intervention und jugendgerechten Sprache das Fachwissen eines institutionellen Netzwerkes. 
Die Jugendlichen erhalten eine zuverlässige Quelle an Informationen zu Themen, welche die Gesundheitsförderung, Prävention und das Wohlbefinden betreffen. Dies wiederum kann für sie selber, ihre Freund*innen oder ihre Familienangehörigen relevant sein.
Eine neue thematische Sektion für Young Carers auf feel-ok.ch ist geplant.

RADIX

Schweizerische Gesundheitsstiftung
Pfingstweidstrasse 10
8005 Zürich
padlina@radix.ch
www.radix.ch/de/feel-okch/
www.feel-ok.ch

Institut Kinderseele Schweiz

Das Institut Kinderseele Schweiz setzt sich dafür ein, dass sich Kinder psychisch erkrankter Eltern gesund entwickeln. Sie beraten Betroffene, ihr soziales Umfeld und Fachpersonen und vermitteln Hilfe.
Eltern, Kinder und Jugendliche werden zum Thema «Familien mit einem psychisch belasteten Elternteil» auch online (z.B. durch Peers via Live-Chat oder durch Fachpersonen) beraten, anonym und kostenlos.

Schweizerische Stiftung zur Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

Albanistrasse 24 / 233
CH-8400 Winterthur
052 266 20 45
info@kinderseele.ch
www.kinderseele.ch


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